Aktiv werden und Hoffnung schaffen für die Suizidprävention!

Suizidprävention: „Das Wichtigste ist darüber zu reden!“

Ein Interview mit Herrn Prof. Dr. Med. Reinhard Lindner und Frau Hannah Müller-Pein vom
Nationalen Suizidpräventionsprogramm zur Enttabuisierung von Suizidalität
“[…] das Wichtigste ist, darüber zu reden […]” – Prof. Med. Dr. Lindner


Jährlich sterben etwa 10.000 Personen in Deutschland durch Suizid, im Raum Würzburg waren
es im Jahr 2020 mehr als 40, davon alleine 20 in der Stadt. Suizidalität hat nicht nur für die
betroffene Person weitreichende Folgen, sondern es sind von jedem vollendetem Suizid auch
etwa sechs weitere Menschen betroffen – Familie, Freunde, Arbeitskollegen, Vorgesetzte, usw.
Suizidprävention verfolgt das Ziel, Menschen in ihrer und aus ihrer psychophysischen Not
(heraus) zu helfen. Daher ist es hilfreich, darüber zu reden und das Thema der Suizidprävention
stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken.

Welttag der Suizidprävention am 10. September

Um das Thema zu enttabuisieren, wurde 2003 erstmals der Welttag der Suizidprävention am 10. September von der WHO ausgerufen.
Trotzdem gilt Suizidalität immer noch als Tabuthema in unserer Gesellschaft. Der Lehrstuhl für
Medienpsychologie der Universität Würzburg möchte deshalb aktiv werden und Hilfsangebote
und -chancen sichtbar machen. Im Zuge dessen entstand ein Interview zum Thema
Suizidprävention.

Etwa 10.000 Suizide jährlich in Deutschland

Professor Lindner ist einer der Leiter des NaSPro — das Nationale Suizidpräventionsprogramm —
und Frau Müller-Pein die Medienbeauftragte desselbigen. Die beiden Expert:innen haben sich für
ein paar Fragen über dieses wichtige Thema zur Verfügung gestellt.


Im Jahr suizidieren sich etwa 10.000 Menschen in Deutschland. Verglichen mit den
Todeszahlen an Verkehrsunfällen, HIV/AIDS und Drogen zusammen, liegt damit der Suizid
weitaus höher. Dennoch gilt das Thema immer noch als tabuisiert. Möglicherweise sind sich
viele Menschen dieser hohen Zahl gar nicht bewusst. Haben Sie eine Vorstellung, woher das
kommt?


Reinhard Lindner: Das Tabu hat eine Funktion für die Gesellschaft. Mit einem Tabu wird der Zusammenhalt in der Gesellschaft auf Kosten der Ausgrenzung einiger gefördert. Ein Tabu zu übergehen, wird mit der Ausgrenzung aus der Gesellschaft bestraft. Insofern ist das Tabu Suizid auch dazu da, einen
scheinbaren Schutz vor den damit verbundenen Gefühlen zu erzeugen. Menschen und
Gesellschaften schützen sich von den massiven Affekten der Scham, Schuld, der Verlusterfahrung
und der Verzweiflung, die mit dem Erleben von Suizidalität, aber auch mit dem Erleben eines Suizids
einer nahestehenden Person zusammenhängen. Andererseits aber befördert das Tabu Suizid, dass
die eigentlichen Hintergründe nicht erkannt und nicht verändert werden können. Verschweigen,
Vergessen und Verleugnen ermöglichen nicht, Hilfen bei Suizidalität anzubieten und anzunehmen.


Das NaSPro verfolgt das Ziel, Suizidprävention gesamtgesellschaftlich voranzutreiben. Könnten Sie die Kernaufgaben des NaSPro kurz vorstellen?


Lindner: Das Nationale Suizidpräventionsprogramm für Deutschland ist ein Netzwerk von Fachleuten
und von Organisationen und Institutionen, die miteinander in den jeweiligen Feldern der
Gesellschaft, in denen sie angesiedelt sind, zusammenarbeiten, um Suizidprävention zu fördern. Es
existiert seit über 20 Jahren und hat sich mit vielfältigen Initiativen beschäftigt. Hierzu zählt auch
eine Einschränkung des Ausgangs zu gefährlichen Medikamenten, z.B. durch kleinere
Verpackungsgrößen und durch die sogenannte „Verblisterung“, d.h. die einzelne Verpackung von
Tabletten. Die Erschwerung des Zugangs zu Suizidmitteln ist eine der wirksamsten Methoden der
Suizidprävention.


Was würden Sie aus Ihrer Arbeit heraus als die zentralen Stellschrauben der Suizidprävention
feststellen? Was muss noch getan werden?


Lindner: Am wirksamsten ist die „Mittelrestriktion“, das heißt die Erschwernis und Verlangsamung
des Zugangs zu Suizidmitteln. Deshalb wäre es weiterhin angebracht, Medikamente, die potentiell
zum Suizid geeignet sind, verschreibungspflichtig zu machen und zu „verblistern“. Wichtig ist auch die
öffentliche Diskussion: Wir wollen das Gespräch darüber fördern, wie Menschen in schweren Krisen
sich an andere wenden können, denn Hilfe ist möglich. Das Wissen über die Möglichkeiten, in sehr
schwierigen Lebenssituationen durch das Gespräch mit anderen Menschen auf neue und bisher nicht
mögliche Gedanken und vielleicht auch Lösungen zu kommen, muss in unserer Gesellschaft noch
weiter gefördert werden.


Ein Ziel der Suizidprävention ist – neben der Hilfe für Betroffene — auch die Enttabuisierung in
der Gesellschaft. Um diese Ziele zu unterstützen, möchten wir Ihnen noch Fragen zu Suizid
und Suizidalität stellen. Woran können Außenstehende bemerken, dass ihre Angehörigen
möglicherweise suizidal sind?


Lindner: Es geht im Grunde darum, überhaupt daran zu denken, dass eine Person, die einem nahe
steht oder die gerade besondere Schwierigkeiten hat, eventuell an Suizid denken könnte. Dann geht
es als nächstes darum, die innere Scheu zu überwinden, diese Person anzusprechen, zu fragen, wie
es ihr geht und ob sie vielleicht gerade dabei ist, völlig zu verzweifeln. Zentral ist es dann, darüber zu
sprechen, dass Hilfe möglich ist. Darüber zu reden, fördert nicht die Suizidneigung des Gegenübers,
das Schweigen aber befördert sie.


Wie sollte man bei Verdacht auf Suizidalität bei einem/einer Angehörigen am besten
reagieren?


Lindner: Ich würde direkt darüber reden und das Gespräch darauf bringen, dass ich als Angehöriger,
als Bruder, Schwester, Mutter oder Vater, je nachdem dem anderen sehr wünsche, dass er oder sie
überleben und einen Weg in dieser schwierigen Lage finden kann. Und ich würde darüber sprechen,
dass Hilfe möglich ist. Manchmal braucht es lange Zeit und viele Gespräche, um einen Weg zu finden.
Suizidalität ist kein leichtes Thema.

Wo kann man sich hinwenden um als Betroffene:r, aber auch als Angehörige:r, Hilfe zu bekommen?


Lindner: Betroffene habe viele Möglichkeiten der Beratung und der Psychotherapie, auch der
psychiatrischen Behandlung. Somit ist der erste Weg für viele Betroffene der Weg zu einer
professionellen Person, der man vertraut. Das können eine Hausärzt:in sein, ein:e Geistliche:r, aber
auch Lehrer:innen. Diese Menschen können vielleicht mit der betroffenen Person nachdenken, wie
es wieder gehen kann, wo professionelle Unterstützung gefunden werden kann. Dies ist dann meist
eine längerfristige professionelle Beziehung, kann in einer Beratungsstelle sein, bei einer/m
Psychotherapeut:in oder in einer psychiatrischen Ambulanz oder Klinik. Auch die Telefonseelsorge
bietet jederzeit Gespräche an. Angehörige können auch diesen Weg gehen oder aber sich an AGUS
e.V. wenden, „Angehörige um Suizid“, die auf Selbsthilfegruppen verweisen können.
Wie eingangs erwähnt, ist Suizidalität ein tabuisiertes Thema. Allerdings sollte dies nicht so
bleiben, sondern aktiv enttabuisiert werden.

Was kann man als Individuum zusätzlich tun, um noch mehr auf das Thema Suizidprävention aufmerksam zu machen?


Lindner: Ich glaube, das Wichtigste ist, darüber zu reden – das öffentliche Gespräch, das eigentlich
überall stattfinden kann. Es geht um die grundsätzliche Annahme des Anderen, die Tatsache, dass wir
alle im Leben in Schwierigkeiten kommen können und die Zuwendung und das Nachdenken eines
freundlichen Gegenübers brauchen. Wir müssen auch über die großen Themen des Lebens öffentlich
sprechen, über den Wert des Lebens und über die menschliche Realität, dass wir alle sterben müssen
und wie dies auf menschliche Weise möglich ist.


Anscheinend bestehen Vorurteile, die Menschen und Angehörige im Umgang mit
Suizidgefährdeten haben. Gesellschaftlich verbreitete Mythen, wie “wer darüber spricht, tut es
nicht“, problematisieren den Umgang mit der Thematik zusätzlich. Wie kann man diesen Mythos
entkräften? Was ist die Problematik dieser Annahmen?


Müller-Pein: Dieser Mythos ist aus zweierlei Hinsicht gefährlich. Zum einen ist er falsch, denn
tatsächlich ist es so, dass die allermeisten — wenn auch nicht alle — Menschen, die durch Suizid
verstorben sind, dies durch Worte oder Taten angekündigt haben. Zum anderen schließt dieses
Vorurteil die Falschannahme ein, man könne Menschen in suizidalen Krisen ohnehin nicht helfen.
Stattdessen ist es aber so, dass Aussagen wie “es macht alles keinen Sinn mehr” ernst genommen
werden sollten und hier jede und jeder von uns aufgefordert ist, genau hinzuhören und füreinander
da zu sein. Die Kernbotschaft lautet: Suizidprävention ist möglich!


Ein weiterer Mythos zum Thema Suizidalität ist, dass psychische Erkrankungen wie z.B.
Depressionen immer mit Suizidalität einhergehen. Wie groß ist der Zusammenhang zwischen
Suizidalität und psychischen Krankheiten nun wirklich?


Müller-Pein: Studien zeigen, dass zwar ein Großteil suizidaler Menschen unter einer psychischen
Erkrankung leidet, allerdings nicht alle. Was alle gemeinsam haben, ist das Erleben einer schweren
Krise, die nicht notwendigerweise auf eine psychiatrische Erkrankung zurückzuführen ist. Es gilt aber
zu bedenken, dass Suizidalität ein sehr komplexes Geschehen ist und es nie den “einen Grund” gibt.
Das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung allein führt nicht automatisch zu Suizidalität.


Gehen wir davon aus, dass diesen Beitrag eine Person liest, die sich gerade in einer schwierigen
Lebensphase befindet. Was würden Sie Betroffenen mitgeben wollen?


Müller-Pein: In Zeiten schwerer Krisen engt sich oft der Blickwinkel ein und es entsteht eine Art
Tunnelblick. Es ist oft sehr schwer, da allein wieder rauszukommen. Daher möchte ich anregen, in
diesen Phasen das Gespräch zu suchen, um sich neu sortieren zu können. Falls das einem im
Freundes- oder Familienkreis unangenehm ist, bietet sich ein Anruf bei einer Telefonseelsorge als
ersten Schritt an. Hier kann man völlig anonym über seine Sorgen sprechen und dadurch neue
Blickwinkel entdecken.


Was würden Sie sich als Medienbeauftragte für die Zukunft der Suizidprävention wünschen?


Müller-Pein: Das Thema Suizidalität wird nach wie vor häufig tabuisiert. Der Welttag der
Suizidprävention kann hier schon einen tollen Beitrag leisten, um miteinander ins Gespräch zu
kommen. Ich würde mir wünschen, dass das Thema aber über das ganze Jahr hinweg mehr
Aufmerksamkeit bekommt. Als gebürtige Würzburgerin freue ich mich deshalb besonders über die
aktuell laufende Kampagne.
Einen zweiten Wunsch habe ich noch: die Suizidprävention sollte dringend gesetzlich verankert
werden. An erster Stelle steht hierfür das NaSPro, eine bundesweite Informations-, Beratungs- und
Koordinationsstelle zur Suizidprävention, die das Angebot der Telefonseelsorge ergänzt. Solche
Hotlines finden sich in vielen anderen Ländern und leisten einen enorm wichtigen Beitrag zu einer
gelingenden Suizidprävention.


Hintergrund zum Interview

Im Rahmen des alljährigen Welttags der Suizidprävention unter dem Motto “Aktiv werden und
Hoffnung schaffen” plante der Lehrstuhl Medienpsychologie der Universität Würzburg unter Leitung
von Prof. Frank Schwab eine crossmediale Kampagne für die Region Würzburg. Prof. Schwab ist
Sprecher der AG “Suizidprävention in der Medien- und Öffentlichkeitsarbeit” des NaSPro. Mit dem
Ziel, das Bewusstsein in der Bevölkerung zum Thema Suizidalität zu erhöhen, entstand in einem
Seminar unter Leitung von Frau Dorothea Adler (Mitglied in der AG „Suizidprävention in der Medienund
Öffentlichkeitsarbeit”) unter anderem dieser Interviewbeitrag, in dem sich Frau Müller-Pein und
Prof. Lindner äußern. Sowohl Betroffene als auch Angehörige sollen mit der Botschaft “Sprich
darüber! Hör zu!” adressiert werden.


Welche Hilfestellen gibt es für Betroffene und Angehörige in Würzburg?

Fachstelle Suizidberatung
Unterstützung in kritischen Lebenssituationen
Kardinal-Döpfner-Platz 1
97070 Würzburg
Tel.: 0931 – 571717
E-Mail:info@fachstelle-suizidberatung.de
Internet:www.fachstelle-suizidberatung.de


AGUS – Angehörige um Suizid e.V.
Kreuz 40
95445 Bayreuth
Tel. 0921-150 03 80
E-Mail: kontakt@agus-selbsthilfe.de
Internet: www.agus-selbsthilfe.de


AGUS-Selbsthilfegruppe Würzburg
Internet: wuerzburg.agus-selbsthilfe.de
Telefonseelsorge
Tel.: 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222
Online-Seelsorge: online.telefonseelsorge.de
Internet: www.telefonseelsorge-wuerzburg.de
Offene Tür: Gesprächsladen, Dominikanerplatz 4, 97070 Würzburg


IMPRESSUM
V.i.S.d.P.: Prof. Dr. Frank Schwab,
Lehrstuhl für Medienpsychologie
Universität Würzburg
Campus Hubland Nord
Oswald-Külpe-Weg 82
97074 Würzburg
Telefon: 0931/31-82395
E-Mail: frank.schwab@uni-wuerzburg.de

  • Konzert gegen die Depression in der Posthalle Würzburg.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert