Frustration, Gewalt, Hoffnungslosigkeit: Jugendsozialarbeiter berichten von schlimmen Schicksalen an Würzburgs Schulen
Wenn Kinder und junge Menschen um Hilfe rufen, dann tun sie das oft ohne Worte. Diese Hilferufe möglichst zu erkennen, darüber zu sprechen und Kindern und Eltern Hilfen anzubieten – das ist die Aufgabe von Jugendsozialarbeitern an Schulen. Zwischen 15 und 45 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Grund-, Mittel-, Förder- und Berufs(fach)schulen in Würzburg werden in der Einzelfallhilfe der Jugendsozialarbeit an Schulen (JaS) erfasst, erfahren also mindestens einmal im Jahr diese sozialpädagogische Unterstützung.
Direkt vor Ort an der Schule sind die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen angesiedelt und haben die Aufgabe, insbesondere sozial benachteiligte und individuell beeinträchtigte Schüler in den Blick zu nehmen. Dabei geht es auch um soziale, persönliche, finanzielle, emotionale, erzieherische und psychosoziale Probleme in den Familien. „JaSler“ beraten Kinder, Eltern, Lehrer, andere Fachkräfte an der Schule und vermitteln, wenn nötig, an andere Stellen. Zum Beispiel an den Allgemeinen Sozialdienst, wenn Hilfe bei der Erziehung erbeten wird, oder an Erziehungsberatungsstellen und Therapeuten.
Es fehlt an Aufmerksamkeit für die Kinder
Auffälligkeiten beginnen bereits im Grundschulalter, wie die Fachkräfte an den Grundschulen berichten: „Es gibt Kinder, die schon in der Grundschule zu hohem Leistungsdruck ausgesetzt sind. Kinder, die mit familiären Problemen belastet sind, wie psychische Probleme oder Suchterkrankungen der Eltern.“
Zum anderen haben sie mit Grundschülern mit Erkrankungen wie ADHS zu tun, aber auch mit Verwahrlosung, fehlender elterlicher Unterstützung und körperlicher Gewalt. „Die einen bekommen kein Pausenbrot mit, kommen ständig zu spät, ihre Kleidung ist zerrissen. Die anderen entwickeln Ticks aufgrund von Ängsten und Leistungsdruck. Wieder andere ziehen sich komplett zurück, tauchen in übermäßigem Medienkonsum unter oder werden aggressiv.“
Kinder und Eltern stehen unter enormem Druck
Die Jugendsozialarbeit versucht, die Ursachen für die Auffälligkeiten zu erkennen und Kindern und Eltern Hilfe anzubieten. „Viele Grundschulkinder können sich eher durch Malen, Basteln, Bewegung, Musik, Spiele ausdrücken als durch Sprache. Daher verwenden wir diese Methode in unserer Einzelarbeit, um ihnen den Druck zu“, erklärt eine Jugendsozialarbeiterin an einer Grundschule. Auffällig sei, dass die Kinder die Aufmerksamkeit und das Verstandenwerden schätzen und sich langsam öffnen.
Auch auffällige Mittelschüler tragen ihre Päckchen. In vielen Familien gebe es keine Zeit für Gespräche oder überzogene Leistungserwartungen an die Kinder, Eltern stünden selbst unter Druck mit zwei Jobs, drei Kindern, finanziellen Problemen, so Kerstin Goldbach (Friedensreich-Hundertwasser-Förderschule). Oder in den Familien existieren völlig andere gesellschaftliche Wertesysteme. „Manche Kinder existieren zuhause gar nicht“, formuliert es Naoufel Hafsa (Mönchberg Grund- und Mittelschule). Oft fehle es an der deutschen Sprache.
Mittelschule: Frust ist fast schon die Regel
Vor allem in der Mittelschule treffen verschiedene Sozialisationen, Integrationsstufen und Wertesysteme aufeinander. Im Konfliktfall werde nicht miteinander, sondern nur übereinander gesprochen, es werden Gerüchte verbreitet oder andere im Netz angegriffen. Es wird Gewalt angedroht, Kleinigkeiten können eskalieren. Dazu komme noch, dass sich Mittelschüler oft abgehängt fühlen. „Sie hadern damit, was mit ihrem Leben passiert, wenn sie die Weichenstellung für die Realschule und das Gymnasium in der vierten Klasse verpasst haben“, erklärt Andreas Spehnkuch (Mittelschule Heuchelhof). Frustration bei Elfjährigen ist in der Mittelschule schon fast die Regel.
Unschätzbar für Jugendsozialarbeiter: Zeit für junge Menschen haben
Wie gehen die Jugendsozialarbeiter mit dieser Bandbreite an Problemen um? „Zeit haben, zuhören, Wege aufzeigen, Ziele formulieren, im Alltag Standards einführen, die die Jugendlichen häufig nicht kennen. Wie pünktlich kommen, grüßen, vor dem Eintreten klopfen“, sagt Andreas Spehnkuch. Geht es um größere Konflikte mit Gewaltpotenzial, bringen sie die Gegner ins Gespräch, versuchen zu schlichten und begleiten sie dabei, Regeln einzuhalten und weiter Kontakt zu pflegen, wie Tommy Hartmann (Mittelschule Würzburg-Zellerau) berichtet.
Eltern raten sie zu Erziehungsberatungsstellen, medizinischen Einrichtungen, Migrationsberatern, verweisen ans Jobcenter oder geben selbst Hilfestellungen bei der Erziehung. Ein wichtiger Tipp der Jugendsozialarbeiter an Eltern: „Reden Sie mit Ihren Kindern!“
„Wir stoßen an die Grenzen des Machbaren“
Je größer die Kinder, desto größer die Sorgen, sagt ein deutsches Sprichwort. Unterschreiben können dies mit Sicherheit die Jugendsozialarbeiter an den Berufs(fach)schulen. Dort gehen die Themen „häufig ans Eingemachte“, stellt Saskia Stock (Klara-Oppenheimer-Schule) fest.
Auffallend ist die Häufigkeit psychischer Probleme oder Erkrankungen an den Berufs(fach)schulen. Soziale Phobien, auch verstärkt durch Corona, Sucht, Autismus, Panikattacken, Fluchterfahrungen, Missbrauch, familiäre Probleme – all das bringen die Schüler mit in die Klasse.
Miriam Möller-Kraft (Klara-Oppenheimer-Schule) und Saskia Stock setzen auch auf die Hilfe ihrer „Türöffner“, auf die Vierbeiner „Merlin“ und „Wolke“. Der Hund hilft, Vertrauen aufzubauen. Viel Verdrängtes komme zum Vorschein, Selbstverletzungen, Selbstmorddrohungen. „Früher konnten wir Härtefälle schnell in Therapien vermitteln“, sagt Miriam Möller-Kraft. „Seit Corona besteht Stau, man muss mindestens ein dreiviertel Jahr auf einen Platz warten. Da stoßen wir auch an Grenzen des Machbaren.“
Jugendsozialarbeiter: „Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs“
„Früher habe ich aktiv im Pausenhof Werbung für die Jugendsozialarbeit gemacht“, erinnert sich Miriam Möller-Kraft. „Heute werden die Schülerinnen und Schüler von den Lehrkräften zu uns geschickt. Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs.“ Das Gefühl der Schüler, Lasten nicht tragen oder Erwartungen nicht erfüllen zu können, nicht gesehen und nicht wertgeschätzt zu sein, psychische Erkrankungen, Kriegs- und Fluchterfahrungen, Missbrauch, Sucht, Schulden, Überforderung der Eltern und erzieherische Strömungen wie zu viel Freiheiten ohne persönliche Verantwortung belastet die jungen Menschen – verbunden mit niemals erlernten Bewältigungsstrategien.
Die Sozialpädagogen an Schulen benennen deutlich die „Fehler im System“, die ihre Arbeit notwendig macht: eine immer weiter auseinanderdriftende Spaltung der Gesellschaft. Radikalisierung, fehlender Zusammenhalt, keine ausreichende Integration, mangelnde Chancengleichheit im Bildungssystem, fehlende soziale Bindungen, bürokratische Hemmnisse. Diese gesellschaftlichen Probleme können nicht von Jugendarbeit in Schulen gelöst werden. Ein Schritt in die richtige Richtung, nur ein einziger präventiver, könnte, so die Einschätzung von Stephan Rinke-Mokay (Franz-Oberthür-Berufsschule) „mehr Ganztag an allen Schulformen, von Fachkräften betreut zur Vermittlung von Sozialkompetenzen“ sein.
OB Schuchardt: „System Schule muss sich ändern“
Oberbürgermeister Christian Schuchardt fordert mehr Individualismus in der Betreuung junger Menschen. „Das System Schule muss sich ändern“. Lehrer und Erzieher in Kindertagesstätten seien am Limit. „Es mangelt im Betreuungs- und Lehrsystem, aber auch in der Integration an Flexibilität. Denn was wir bei Integration und Betreuung heute versäumen, wird uns später große Probleme bereiten.“